„Millions can Walk“ – Ekta Parishad – „Jakobsweg“ in Indien

Nicht überall, wo Jakobsweg draufsteht, ist auch Jakobsweg drin.  Jedenfalls vermisse ich die  von mir gesuchte Atmosphäre eines Pilgerweges bisher gänzlich auf  gewissen Wegstrecken in  Deutschland , auch wenn diese als historische Pilgerwege ausgewiesen sind. Dort treffe ich auf Jogger, Hundebesitzer- und KinderwagenschieberInnen, sowie auf spazierende Rentnerpaare – aber nicht auf Pilger.

Dagegen empfinde ich die Inspiration des  Jakobspilgern  manchmal dort, wo diese Bezeichnung überhaupt nicht erscheint. Deshalb befrage ich mich danach, was ich denn darunter eigentlich verstehe.  Meine Antwort bezieht sich auf  die Motivation des Pilgerns als Gruppenerfahrung. Jetzt wäre noch die  Frage offen, was Pilgern denn eigentlich kennzeichnet. Ohne Zweifel  unterscheidet sich  die Motivation heutiger Pilger weitgehend von derjenigen ihrer mittelalterlichen Brüder. Letztere machten sich zur Abbüßung ihrer Sünden aus Angst vor dem jüngsten Gericht auf den Weg, während heutige Peregrinos hauptsächlich bestrebt sind, ihr Leben intensiver wertzuschätzen und zu feiern.

Die Erkenntnis, die mir nach längerer Meditation kommt, überrascht mich selbst. Das menschliche Leben verdient nur, gefeiert werden, wenn es mehr bedeutet, als noch nicht tot zu sein. Mein Leben hat aber nur dann eine Bedeutung, wenn es etwas gibt, das dessen Wert in dem Sinne übersteigt, dass ich bereit wäre, es dafür zu opfern. Auch wenn es mir nicht bewusst war, hat diese Einstellung mich auf meinem  ganzen Jakobsweg fünf  Jahre lang getragen:  diesen Weg zu verfolgen, koste er, was er wolle – d.h. selbst wenn es das Leben selbst wäre.  In meinem Buch „Jakobspilgern im Massentourismus“ kommt es zu einem solchen Moment schon nach einer  Stunde nach dem Aufbruch in Le Puys.  Ohne dieses Kriterium sehe ich nur eine mehr oder weniger sportliche Unternehmung darin, gleich welchen Jakobsweg  abzuwandern.

Kürzlich hatte ich Gelegenheit, einen ganz besonderen Film zu sehen, wobei ich eine intensive Jakobsinspiration empfand.  Es handelt sich um den preisgekrönten Dokumentarfilm „Millions can Walk“ von Christoph Schaub und Kamal Musale, der den  „Jan-Satyagraha- Marsch der Gerechtigkeit“  von Hundertausenden landlos gewordener  Ureinwohner  Indiens unter der Führung von Rajagopal zeigt. Es war tief berührend mitzuerleben, mit welcher  Heiterkeit sich diese Ärmsten der Armen  singend und tanzend über Hunderte von Kilometern bewegten, um ihre Forderung nach einer Existenz in Würde  von 80 Millionen besitzloser Landbevölkerung  in Indien Geltung zu verschaffen.  Die von Rajagopal  gegründete Bewegung „Ekta Parishad“ , die auf Mahatma Gandhis gewaltfreier  Philosophie  beruht, hat bereits mehrere solcher Märsche in verschiedenen Erdteilen organisiert. Sie  wird diese auch weiterhin initiieren, damit längst geltende Gesetze, die diesen Menschen Landbesitz  zum Lebensunterhalt zugestehen,  endlich auch umgesetzt werden.  Die Landlosen nennen sich Adivasis, was „erste Menschen“ bedeutet, sind klassenlos und ursprünglich matriarchal organisiert. Früher haben sie sich nomadisch lebend von Früchten des Waldes ernährt, bis sie durch die Interessen  von Unternehmen, die Bodenschätze ausbeuten, von dort  vertrieben wurden. Seitdem vegetieren sie an den Rändern indischer Straßen und verrichten  als Tagelöhner  und Lohnsklaven Schwerstarbeiten.

Solche Märsche zu begleiten, das kann für mich heute Jakobspilgern  heißen. Auch auf Deutschlands Pfaden..


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